Wie Sie als medizinische Fachkraft die Progression Ihrer MS-Patient:innen monitoren und damit zu einer adäquaten Therapie beitragen können, erklärt Privatdozent Dr. med. Jan Dörr in seinem Vortrag. Er ist ärztlicher Leiter des Multiple Sklerose Zentrums Oberhavel.
Das medizinische Fachpersonal ist sehr eng in die Betreuung der Patient:innen eingebunden und verbringt in der Regel mehr Zeit mit ihnen als die Ärzt:innen. Als so wichtiges Bindeglied können Sie wesentlich dazu beitragen, Warnhinweise für eine Progression zu erkennen und damit aktiv den adäquaten Einsatz einer Therapie zu unterstützen. Voraussetzung hierfür ist es, die Progression bei MS zu verstehen, so Dr. Dörr.
Progression der Multiplen Sklerose
Die Zunahme der Behinderung bei MS kann über zwei Wege erfolgen. Zum einen über die schubabhängige Progression (relapse-associated progression, RAW). Hierbei entwickelt sich ein sogenanntes kumulatives Defizit, wenn sich die Schübe nicht vollständig zurückbilden, so Dr. Dörr. Davon abzugrenzen ist die schubunabhängige Progression (progression independent of relapse activity, PIRA), also eine Behinderungszunahme ohne das Auftreten von Schüben. Heute ist bekannt, dass der Beitrag dieser schubunabhängigen Progression an der Behinderungszunahme wesentlich größer ist – auch bei der schubförmigen MS und bereits in der Frühphase vorhanden ist. Um einer Zunahme der Behinderung vorzubeugen, muss die Progression mit wirksamen Medikamenten gebremst werden.
Therapeutisches Fenster im Verlauf der MS
Eine ganze Reihe von Studien belegt mittlerweile gut, dass eine frühzeitige, hocheffektive Therapie der MS hinsichtlich der Behinderungszunahme wesentliche Vorteile gegenüber einem späteren Einsatz bringt, so Dr. Dörr. Hintergrund hierfür ist das sogenannte therapeutische Fenster, das in der Pathologie der MS begründet liegt: In den frühen Phasen der MS spielen sich die Entzündungsprozesse vor allem in der Peripherie, also außerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS) ab. Im weiteren Verlauf verlagert sich die Entzündung ins ZNS und damit hinter die Blut-Hirn-Schranke. Während viele MS-Medikamente die frühe Peripherie-getriebene Entzündung wirkungsvoll behandeln, können sie die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren und sind daher in der späteren Phase der MS weniger wirksam. Daher ist es wichtig, die Entzündung in der frühen Phase der MS mit hochwirksamen MS-Therapien zu behandeln und die Krankheitsaktivität möglichst vollständig zu unterdrücken, bevor sich das therapeutische Fenster in den späteren Phasen schließt.
Methoden zur Progressionsmessung bei MS
Laut Dr. Dörr bemerkt man subtile Veränderungen nur, wenn man bewusst auf sie achtet. Um die Progression Ihrer MS-Patient:innen zu beobachten, stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Eine Behinderungszunahme lässt sich über den Wert der Expanded Disability Status Scale (EDSS) messen, den in der Regel die Ärzt:innen im Rahmen der neurologischen Untersuchung bestimmt. Die Tests des sogenannten Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC) – Timed 25-Foot Walk (T25FW), 9-Hole Peg Test (9HPT) und Paced Auditory Serial Addition Test (PASAT3) – führt dagegen meist das medizinische Fachpersonal durch. Der Vorteil dieser Tests ist, dass sie neben der Gehstrecke auch die Armfunktion sowie die kognitive Leistungsfähigkeit beurteilen. Darüber hinaus gibt es verschiedene Fragebögen zum Screening auf eine Behinderungszunahme wie die „Progressions-Checkliste“, über die verschiedenen Themen wie Blasenfunktionsstörungen, Gehstrecke oder die Handfunktion/Feinmotorik abgefragt werden können.
Weitere wissenswerte Hintergründe zur Krankheitsaktivität und Progression bei MS erfahren Sie im Video des Vortrags:
Mehr Informationen für Ihre Patient:innen zum Thema finden Sie in der trotz ms WISSEN KOMPAKT Ausgabe „Progressionsmessung”, die Sie hier herunterladen können.
Dieser Beitrag stellt teilweise Expertenmeinungen sowie die klinische Praxis dar und beruht auf folgenden Quellen:
Quellen
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